Von einem auf vier Fahrer (darunter drei Newcomer), ein frisch motiviertes Team, eine neue Geschäftsleitung und das zweite Jahr in Folge mit zwei neuen Motorrädern: Das Red Bull KTM Factory Team der MXGP hat eine Generalüberholung erfahren – erreicht aber nach wie vor dieselben Ziele und Standards. Wir haben nachgefragt …
Von Adam Wheeler
Der Stein bleibt im Rollen für KTM bei der MXGP. 2023 hat in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Neustart bedeutet. Nach der verletzungsgeplagten Aufstellung im Jahr 2022 und dem Titel, der dennoch bei der MX2-WM von Tom Vialle eingefahren werden konnte (außerdem die erste Auszeichnung für die erneuerte KTM 250 SX-F), wurde das Team in der MX2 mit Andrea Adamo, Liam Everts und Neuling Sacha Coenen neu aufgestellt. Die MXGP-Ikone Tony Cairoli wurde Team-Manager, während KTM-Stammfahrer Dirk Grübel die Position des technischen Koordinators an Harry Norton, den einstigen Mechaniker von Vialle, übergibt. Der Australier war für eine ganze Reihe neuer Techniker verantwortlich, die den Anforderungen der 19 Runden umfassenden Weltmeisterschaft gerecht werden mussten – sowohl im Hinblick auf das MX2-Trio als auch auf den Rückkehrer Jeffrey Herlings in der MXGP-Kategorie mit der KTM 450 SX-F.
Die erste Phase des Jahres 2023 hätte verständlicherweise als sanfter Übergang zu neuen Wegen und neuen Stilen betrachtet werden können. Doch das Team hat noch kaum am Gasgriff gedreht. Adamo erwies sich als herausragendes Talent unter den wachsamen Augen des Trainers/Fahrer-Coaches Joel Smets und der Führung der allgegenwärtigen Team-Koordinatorin Valentina Ragni – eine der Konstanten innerhalb der Gruppe seit fast zwanzig Jahre. Bereits sieben Podiumsplätze hat er seit der ersten Hälfte der Saison errungen und kämpft um den 12. MX2-Titel für KTM seit 2010. Everts ist auch auf dem Podium erschienen – und das bereits bei der zweiten GP-Kampagne. Der erst 16 Jahre alte Coenen musste mit Verletzungen hadern, doch Grand-Prix-Punkte und beeindruckende Geschwindigkeiten konnte er zuhauf vorweisen. Die KTM 250 SX-F ist schnell.
Zu Herlings: Der 28-Jährige hat den historischen 102. Sieg in Spanien in Runde 6 erzielt. Alle Siege seit April 2010 erfolgten auf einer Red Bull KTM SX-F. Der profilstarke und fünffache niederländische Weltmeister stand fest an der Spitze des MXGP-Standings, mit kaum mehr als einem halben Dutzend GPs auf seiner KTM 450 SX-F 2023, als er sich bei einem Sturz in Deutschland eine Verletzung am Genick zuzog, die ihn zu einer Zwangspause verdammte.
Von einer dürftigen – aber fruchtbaren – Anwesenheit von nur einem Fahrer im Jahr 2022 fährt Red Bull KTM jetzt auf mehreren Zylindern in die Runde ein und sorgt für weitere aufregende Geschichten bei der weltweit schnellsten Offroad-Rennserie. Wir haben Norton zwischen seinen Aufgaben als Hüter des technischen Teams der vier Rennbikes dazu befragt, wie das erfolgreichste Team der Gegenwart sich verändert hat, aber dennoch weiter Erfolge liefern konnte, und wie er zu seiner eigenen Veränderung steht.
„Dirk hat mich letztes Jahr sehr gut auf die Aufgaben der Rolle vorbereitet“, berichtet er. „Wir haben eine gute Truppe junger Leute und eine tolle Gruppe von Fahrern. Wir haben zahlreiche Teammitglieder aus unterschiedlichen Ländern und es hat Spaß gemacht, zusammenzukommen.“
Wie war es für dich als Mechaniker eines Fahrers, plötzlich in eine Gruppendynamik einzutauchen?
Für mich hat sich eigentlich nicht viel verändert. Die Art, wie du deinen Job angehst, ist größtenteils dieselbe und du tust alles Menschenmögliche, um sicherzustellen, dass alles reibungslos klappt. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass sich deine Gedanken an verschiedenen Orten gleichzeitig befinden. Allgemein betrachtet ist die Arbeit ganz anders, aber nichtsdestotrotz sehr ähnlich. Ich setze weiterhin dieselben Standards wie als Renn-Mechaniker, aber der Fokus muss aufgeteilt werden.
Was hat dir die meisten Kopfschmerzen bereitet? Teile und Lieferungen zu beschaffen? Ganz ehrlich, in diesem Jahr lief es viel besser. Dieses ist das zweite Jahr mit dieser Generation der SX-F. Im ersten Jahr kann es mit den Bauteilen heikel sein, im zweiten Jahr klappt es meist besser und im dritten noch besser. Momentan befinden wir uns bereits in einer anständigen Position und mit vier Fahrern ist es definitiv eine größere Herausforderung als im Jahr 2022, als praktisch nur Tom fuhr, weil Jeffrey verletzt war. Im Allgemeinen war es mit den verfügbaren Ressourcen in Ordnung.
Jeffrey Herlings war über das ganze Jahr 2022 verletzt und abwesend – bedeutet das, dass ihr euch nun mit der Entwicklung der KTM 450 SX-F beeilen müsst?
Natürlich. Wir haben letztes Jahr keine Kilometer auf KTM-Seite gemacht. In dieser Saison haben wir einige Rennen gebraucht … Ich will die Bedeutung nicht unterbewerten, dass Jeffrey ein ganzes Jahr gefehlt hat. Das war eine lange Zeit ohne Rennen. Deshalb waren wir sehr damit beschäftigt, uns für 2023 vorzubereiten. Es gibt grundsätzlich unterschiedliche Arten von Fahrern und unterschiedliche Erwartungen in Bezug darauf, wie das Bike in bestimmten Situationen reagieren soll. Mit Jeffrey haben wir schon lange zusammengearbeitet, deshalb wissen wir, was er von einem Motorrad erwartet und welche Punkte für ihn wichtig sind. Man kann die Parameter von dem alten Bike auf das neue Bike übertragen und da fehlte nicht viel. Jeffrey brauchte eine Weile, um wieder vollkommen fit zu werden und sein Selbstvertrauen nach der einjährigen Pause wieder aufzubauen. Das Vertrauen, das er in das alte Bike hatte, hat er auch in das neue gesetzt. Die Arbeit läuft noch.
Wie sieht der Entwicklungsplan für die 450er aus? Ist da etwas völlig Neues in petto oder wird die Plattform weiter ausgefeilt?
Es gibt immer etwas zu tun: viel in-House und hinter den Kulissen mit Blick auf die Zukunft. Wir, als Rennteam, erkennen das nicht immer gleich, denn unser Job ist es, das Selbstvertrauen der Fahrer mit dem Gesamtpaket, das sie haben, aufzubauen, damit sie ihre Aufgabe bei der MXGP erfüllen können. Es sind kleine Schritte und selten große Änderungen auszuführen. Kleine Dinge, die der Fahrer uns womöglich vorschlägt oder wir ihm, um an den wenigen fehlenden Prozentpunkten der Leistung zu arbeiten.
Zum Beispiel?
In Arco di Trento [Grand Prix von Trentino und Runde 3] kämpfte Jeffrey am Samstag ein wenig. Wir haben dann die Gabeln geringfügig verändert. Für ihn hingegen war es ein entscheidender Unterschied und hat sein Selbstvertrauen in Bezug auf das allgemeine Gefühl auf dem Bike enorm unterstützt. Oft kann eine kleine technische Veränderung große Auswirkungen haben, denn die Jungs fahren diese Bikes so viel und haben ein äußerst feines Gespür für sie entwickelt. Eine derartige minimale Veränderung genügt manchmal, um den Schalter von 85 auf 95 % umzulegen.
Wie sieht es bei der Architektur des aktuellen Bikes mit der Wartung und der Vorbereitungsarbeit aus?
Sie hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. KTM hat seit jeher an Ideen gearbeitet, die nicht nur zu einem besseren Fahrerlebnis und einer besseren Leistung der Bikes führen, sondern auch vom Mechaniker und der Person zuhause leichter gehandelt werden können. Im ersten Jahr hat es sehr viele positive Dinge gegeben, natürlich auch einige Herausforderungen, doch das ist normal bei einer neuen Plattform. Als Rennteam richtest du dein Set-up so spezifisch für ein Modell ein, dass es, wenn es radikale Änderungen gibt, eine Weile braucht, um mit dem neuen umgehen zu können. Wenn erst einmal alles ins Rollen kommt, dann stimmt’s.
Die AMA Supercross findet wegen des Kalenderstarts immer vor der MXGP statt – die SX ist im Januar, die MXGP üblicherweise im März – wie läuft dann die Arbeitsbeziehung mit den Jungs von Red Bull KTM in Kalifornien?
Ich würde nicht behaupten, dass wir jede Woche in Kontakt stehen, aber ich bin beispielsweise im November hingeflogen, um sie persönlich zu treffen und an einer Änderung für Tom zu arbeiten und auch um die Jungs besser kennenzulernen. Wir wissen, dass wir nur ein Telefonat oder ein Treffen voneinander entfernt sind. Von der AMA-Serie können wir viel lernen. Bei den Regeln der MXGP haben wir eine größere technische Flexibilität, doch wir besitzen bereits eine solide Basis mit dem Motorrad – es ist also nicht so, dass wir es für den Grand Prix neu entwerfen müssten. Es gibt einen regen Informationsaustausch. Supercross und Motocross sind unterschiedliche Sportarten. Deshalb ist es schwierig, zu übermitteln, was sie „Indoor“ für unsere Meisterschaft vorfinden, da sich die Dinge nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Doch was die Zuverlässigkeit und Haltbarkeit anbelangt, ist es ein großer Vorteil, eine Reihe von Bikes auf der Strecke und unter echten Rennbedingungen zu haben. Wir verstehen, welche Bauteile der Bikes ihrer Sache gewachsen sind und an welchen noch gearbeitet werden muss.