Wie wird man eigentlich Grand Prix Crew-Chef, und wie komplex ist dieser Job? Andrés Madrid, der Mann, mit dem Brad Binder am engsten zusammenarbeitet, erzählt uns seine Geschichte…
Von Adam Wheeler
Brad Binders MotoGP™-Box besteht aus den unterschiedlichsten Charaktären, Nationalitäten und Erfahrungen. Der 28-Jährige sitzt hinten in seiner Ecke, während vorn die KTM RC16s geputzt werden. Räder werden eingepackt, getauscht und montiert, Kabel fliegen, Werkzeuge klappern. Fast tänzerisch bewegen sich die Leute bei ihrer Arbeit in dem kleinen, mit Teppich ausgelegten Raum. Binder blickt meist in die Ferne und darüber hinaus; verloren irgendwo zwischen Konzentration, Fokussierung und Gedanken. Und Andrés Madrid? Wenn er gerade nicht mit einem Klemmbrett bewaffnet ist, sich über ein Mikrofon an den Rest der Gruppe wendet oder auf einen Datenmonitor starrt, gibt er Anweisungen und versucht, alles optimal in Binders Rhythmus zu bewegen.
2024 startet Brad in seine zehnte MotoGP™ Saison in Red Bull KTM Farben. In neun davon war Madrid an seiner Seite. Sein Weg führte ihn von der Tätigkeit als Dateningenieur in Aki Ajos Red Bull KTM Ajo Team in der Moto3™, über die Arbeit als Crew-Chef in der Moto2™ schließlich in die gleiche Funktion, allerdings mit wesentlich komplexeren Aufgaben, beim MotoGP™ Factory-Team, wo er seit Anfang 2021 arbeitet. Die letzten Saisonen in der MotoGP™ hatte Binder als 11., 6., 6. und schließlich 4. beendet. Gemeinsam mit Andrés besteht Einigkeit darüber, dass 2024 ein noch besondereres Jahr werden könnte.
Wenn es an der MotoGP™ ‚awareness‘ etwas auszusetzen gibt, dann ist das die Tatsache, dass das Team innerhalb und außerhalb der Box sowie seine Bedeutung für das Gesamtergebnis immer ein wenig im Schatten der Aufmerksamkeit stehen. Es gibt 22 hochqualifizierte, hoch erfahrene (sie fahren seit ihrer Kindheit), hoch motivierte und äußerst mutige Athleten auf der Rennstrecke. Doch hinter jedem Einzelnen steht ein kompetenter, in vielen Stürmen erprobter und diplomatischer Crew-Chef. Jeder Athlet hat seinen Manager. Der eine könnte ohne den anderen nicht existieren. Der Crew-Chef ist das Bindeglied, der Übersetzer, der Friedensstifter, der Problemlöser und der erste Berührungspunkt des Fahrers mit der Welt des Sports hinter den Linien des Asphalts.
Wie haben ein Südafrikaner und ein Spanier eine solche Verbindung geschmiedet? Und wie fand Madrid seinen Weg zum Leiter eines Grand Prix gewinnenden Teams?
„Als Student an der Universität in meiner Heimatstadt Valencia habe ich bei einer kleinen nationalen Meisterschaft mitgearbeitet“, blickt der schlanke 37-Jährige zurück. „Ich habe Maschinenbau studiert, war aber immer schon Motorsportfan. Schließlich ergab sich die Gelegenheit, in einem etablierten Grand Prix-Team aus der Gegend mitzuarbeiten und auf diese Weise auch an einer Weltmeisterschaft teilzunehmen, doch zunächst wollte ich mein Studium abschließen. In meinem letzten Jahr an der Universität erhielt ich einen Anruf von Aki Ajo. Das war Ende 2012, als sie gerade mit Sandro Cortese ihren ersten Moto3™-Titel gewonnen hatten. Ich dachte, ‚Wow, das lässt du dir jetzt nicht entgehen.‘ Mir war bewusst, dass es hart werden würde, Studium und Beruf unter einen Hut zu bringen, doch das war ja nur für ein Jahr. Ich wollte kein Mechaniker werden und habe deshalb mein Feld zu Design Engineering gewechselt, wo es mehr um Ideen geht. Dann wollte ich mehr über Elektronik lernen, weil ich mich mehr in Richtung Daten entwickelte. Daher habe ich noch etwas intensiver Elektronik studiert und einen Master-Abschluss gemacht. Ich verbrachte also einige Jahre an der Universität! Doch neben dem Studium habe ich meinen Job im Rennsport ausgeübt.“
Madrid ist Intelligent, ein Teil der Fahrerlager Community und hat sich den Anforderungen des Rennsports verpflichtet. So fand er allmählich seinen Platz im Grand-Prix-Establishment. Bei Ajo und einem aufstrebenden Talent namens Brad Binder gab es für ihn keine Data Rolle. So wurde er eines Tages 2015 Crew-Chef.
„Nachdem wir 2016 mit Brad die Moto3™-Weltmeisterschaft gewonnen hatten, wechselte Aki in die Moto2™, wobei er einige von uns mitnahm. Doch ich sollte keine Daten verwalten, sondern als Crew-Chef arbeiten. Meine erste Antwort war „Nein“! Ich hatte verschiedene Gebiete der Technik studiert, mein Fokus lag auf Daten und Strategien und vielleicht eines Tages die MotoGP™. Ich wollte ein Experte sein. Mein Ziel war nie ein Team zu „managen“. Aki fragte mich ein weiteres Mal. Ich blieb bei meinem „Nein“. Ich sagte: ‚Aki, es tut mir sehr leid, aber das ist nicht mein Ding. Das entspricht einfach nicht meinen Stärken.‘ Auf meine dritte Absage reagierte er mit den Worten: ‚OK, ich frage dich nicht mehr‘ Du machst das jetzt einfach!’“
Ajo sah etwas in der Art und Weise, wie Madrid sich in der Box und innerhalb der Teamdynamik bewegte. Ab diesem Moment in der Moto2™ hat Andrés sein Fortkommen auf dem Bildungsweg ein weiteres Mal beschleunigt. „Einer der älteren Crew-Chefs, die wir in der Garage – mit Brad und Miguel Oliveira in der Moto2™ – hatten, war Massimo Branchini, eine lebende Legende. Von ihm habe ich viel gelernt. Als ich in der spanischen Meisterschaft begonnen hatte, arbeitete er für ein anderes Grand Prix-Team und eine andere Marke. Irgendwann teilten wir uns schließlich eine Box. Dort saß ich in meiner Ecke und sah mir an, wie das Team arbeitete und wie professionell es war. In der spanischen Meisterschaft war es zwei/drei Stufen höher oder besser als unser Team. Ich habe ihm Fragen gestellt, mich mit ihm unterhalten und versucht, alles aufzunehmen – wie ein nerviges Kind im Hintergrund. Ein paar Jahre später arbeitete ich an seiner Seite und mit Aki! Ich fand das großartig und versuchte weiter, möglichst viel zu lernen. In seiner Nähe war ich wie ein Schwamm, der alles aufsaugte. Er hatte immer die Geduld, sich mit mir hinzusetzen und all meine Fragen zu beantworten. Gleichzeitig konnte auch ich ihm weiterhelfen, denn wir arbeiteten beide an der Entwicklung eines Bikes. Wir mussten eine Software entwickeln, und ich konnte meine Programmierkenntnisse und andere Skills einsetzen. Ich glaube, wir beide waren ein starkes Team.“
Binder hat in drei Jahren acht Grands Prix gewonnen. 2019 war er dem Titel sehr nahe. Dann stand die MotoGP™ vor der Tür. Nach Binders Rookie-Saison 2020 wurde Madrid im Jahr 2021 wieder gefragt. „Mike Leitner [der damalige Chef des Red Bull KTM Teams] fragte mich, ob ich für Brad arbeiten wolle. Wieder verneinte ich. Ich sagte: ‚Mike, das ist ausgeschlossen. Das wäre zu viel für mich. Ich habe noch nie in der MotoGP™ gearbeitet. Wie soll ich das schaffen?!‘ Schließlich war das ein ganz anderes Niveau: eine viel größere Crew, andere Reifen und Bremsen, eine andere Elektronik. Sie brauchten doch jemanden mit Erfahrung! Daraufhin erzählte er mir ein paar Storys von seinen eigenen Anfängen bei einer anderen Marke, das gab mir etwas Vertrauen. Zumindest konnte mir niemand ein übersteigertes Selbstbewusstsein vorwerfen. Ich war von Anfang an sehr ehrlich, und Mike traute mir den Job unbeirrt zu. Wenn ich auf jemanden treffe, der erheblich mehr Erfahrung hat als ich, dann höre ich dieser Person sehr genau zu. In diesem Fall dachte ich: ‚Wenn Mike Leitner mir das sagt, dann werde ich ihm einfach vertrauen.‘“
„Als wir in der MotoGP™-Box ankamen, war mir klar, dass mir die anderen Jungs ein paar Schritte voraus waren. Wenn ich sie fragte, ob sie einen bestimmten Punkt geklärt hatten, kam die Antwort: ‚Bereits erledigt.‘ Fragte ich, ob sie etwas anderes überprüft haben, wieder die Antwort: ‚Bereits erledigt.‘ Das war einfach genial. Die Erfahrung war fast überwältigend. Mir war klar, dass diese Art zu arbeiten und von einem Team wie diesem umgeben zu sein, mein Leben sehr erleichtert. Das sind echte Experten.“
Madrid hatte ein Gespür für die technischen Aspekte. Doch der direkte Umgang mit Fahrern, mit Persönlichkeiten, mit Druck sowie die Übernahme von Verantwortung waren eine ganz andere Sache. „Ich erkannte sehr schnell, dass mein Job ausschließlich von Ergebnissen abhängt. Selbst wenn du der Meinung bist, dass du alles richtig machst und dein Team gut ist: Wenn die Ergebnisse ausbleiben, bist du ‚gefährdet‘. Das ist einfach so. Das macht das Leben komplizierter. Du spürst den Druck auf deinen Schultern; das kannst du mit keiner anderen Position in dieser Sportart vergleichen. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Trotzdem muss ich sagen, dass man jeden Abend, wenn man ins Bett geht, noch etwas von dieser Last mit sich herumträgt. Das kann für unruhige Nächte sorgen; und das wird auch nicht besser. Ich weiß nicht, wie das bei anderen Crew-Chefs ist, aber bei Gesprächen mit ihnen kannst du zwischen den Zeilen raushören, dass es genauso ist. Du schaust den anderen an und kennst seine Situation. Doch man spricht nicht darüber.“
Brads Geschichte ist bekannt. Sein Tempo am Beginn seiner Rookie-Saison war ermutigend. Mit seinem ersten MotoGP™-Sieg in seinem erst dritten Rennen in der Königsklasse vollbrachte er in der Tschechischen Republik Großes. Ein Jahr später, in Österreich, mit Madrid in seiner Ecke, errang er einen weiteren Sieg. Ja, Binder ist das größte und wertvollste Rädchen in dieser Maschine, und es gibt nur wenige, die die Nr. 33 so zu drehen verstehen wie Andrés. „Je besser er für den Sieg gerüstet ist, desto deutlicher wird ihm bewusst, was genau ihm noch fehlt, um schneller zu sein“, verrät er uns lächelnd. „Wenn er von etwas eine sehr klare Vorstellung hat, lässt er sich nicht aufhalten, bis er sein Ziel erreicht hat. So muss man sein. Definitiv.“
„Ich habe das in jeder Klasse gesehen: Es gibt diesen einen Moment, in dem es ‚Klick‘ macht. Dann ist er super-schnell unterwegs, und dann ist auch egal, was er auf dem Bike macht“, ergänzt er. „Wenn es an Selbstvertrauen mangelt, neigen die Fahrer dazu, empfindlicher zu werden – im Umgang mit dem Bike, aber auch im Umgang mit Veränderungen. Sie beginnen, sich mehr Sorgen um andere Dinge zu machen, aber da ich Brad vom ersten Tag an kenne, hat er großes Vertrauen in die Gruppe. Er sagt: ‚Jungs, ich brauche das und das. Ich habe vollstes Vertrauen in eure Entscheidungen. Also geben wir 100%.‘ Das erleichtert unser Leben erheblich. Ich habe andere Fahrer kennengelernt, die viel stärker in die technische Seite involviert waren. Dann wird es viel komplizierter, denn diese Fahrer glauben, alles zu wissen! OK, sie wissen eine ganze Menge, denn sie sehen und spüren Dinge, die wir den Daten nicht entnehmen können… Doch es gibt auch andere Aspekte, die sie weniger gut kennen. Wir betrachten die technische Seite aus einer viel breiteren Perspektive als sie. Es hat schon seinen Grund, warum wir bestimmte Dinge auf eine bestimmte Weise erledigen.“
Wenn Binder oder ein anderer MotoGP™-Fahrer der Anführer ist, ist der Crew-Chef der ultimative zweite Mann in der Rangordnung. Es ist derjenige, der an den Meetings teilnimmt, technische Entscheidungen trifft, auf die Harmonie in der Gruppe achtet und die Voraussetzungen dafür schafft, dass der Athlet seinen Job machen und brillieren kann. „Wenn der Fahrer ausgeglichen ist, überträgt er diese Ruhe auf dich. Er leited an“, meint er. „Diese Ruhe bedeutet, dass er jede Entscheidung, die wir treffen, draußen umsetzen wird.“
Die Chemie zwischen Fahrer und Crew-Chef ist eines der magischsten Elixiere in der MotoGP™. Zwei Ingredienzien und zwei hochspezialisierte Persönlichkeiten in einer hochkomplexen Sportart. Kein Wunder, dass die Feierlichkeiten nach den Rennen immer so cool aussehen.
2024 beginnt die MotoGP™ mit dem Großen Preis von Katar, dem ersten von 21 Rennen, das vom 8. bis 10. März auf dem Lusail International Circuit stattfindet. Mehr über Red Bull KTM Factory Racing findest du HIER.