KTM hat auch 2023 die MXGP- und die MX2-Klasse beherrscht – zum siebenten Mal in den letzten acht Jahren. Weltmeister in der MX2 wurde Andrea Adamo. Doch auch Liam Everts konnte auf seiner KTM 250 SX-F Erfolge verzeichnen. Wir haben uns mit dem sympathischen und sensiblen Belgier über seinen Weg an die Spitze unterhalten.
Von Adam Wheeler
Um Verwirrungen vorzubeugen: Ja, auch Liam Everts trägt die Startnummer 72. Noch bevor er laufen konnte, war der heute 19-jährige Belgier ein wiedererkennbarer Teil der wohl berühmtesten Motocross-Familie: Sein Vater Stefan gewann 2004 den Großen Preis von Irland und trug zur Siegerehrung Söhnchen Liam schon als Baby mit aufs Podium. An diesem Tag hatte der zum Ende seiner Karriere zehnmalige Weltmeister in Ballykelly seinen achten Titel geholt. Ob er beim Blick auf den in seinen Armen liegenden zwei Monate alten Sohn wohl ahnte, dass dieser eines Tages selbst einen Grand Prix gewinnen würde?
Wenn man sich zum Gespräch mit Liam zusammensetzt, fällt es schwer, nicht sofort in die reiche Motorsporttradition der Everts-Dynastie einzutauchen. Schließlich kann mit ihm nun bereits die dritte Familiengeneration GP-Erfolge feiern, und ein künftiger Weltmeistertitel ist sehr wahrscheinlich. 2023, in seinem ersten Jahr als Red Bull KTM Factory Racing Fahrer und bei seiner erst zweiten vollständig absolvierten MX2-Weltmeisterschaft, war er bereits sehr nah dran. Vor dem vorletzten Grand Prix in Italien lag Everts nur 48 Punkte hinter Adamo. Ein Sturz im zweiten Rennen in Maggiora nahm jedoch jeglichen Schwung aus seiner Aufholjagd, die ihn bis dahin zu 8 Podiumsplätzen und 3 Siegen geführt hatte. Zum Vergleich: Adamo stand insgesamt elfmal auf dem Podium und war zweimal siegreich. Nichtsdestotrotz gehörten Everts und sein doch überraschender Aufstieg in die Reihe der MX2-Sieger zu den besonderen Geschichten des Jahres 2023. Und so ließ er das für ihn letztlich enttäuschende Ergebnis in der MX-Klasse einfach hinter sich und stellte Ende 2023 beim rappelvollen Motocross of Nations in Ernee mit einer hervorragenden Leistung für sein Land erneut sein außerordentliches Können unter Beweis.
Liam gibt selbst offen zu, kein Generationstalent wie sein Vater zu sein. Aber er ist fleißig, arbeitet hart und hat ein Gespür für das optimale Tempo. Zudem hat er gezeigt, dass er sich an Strecken, Bedingungen und Umstände anpassen kann. Er macht Fehler, weiß aber wie wichtig Analyse und Beständigkeit sind. Und wenn er auch nicht die Aura eines Rekordjägers besitzt, so hat er definitiv die Mentalität eines Siegers.
Gut aussehend, mehrsprachig, zugänglich: Mental ist Everts bereits ein „Löwe“, denn er ist fest entschlossen, sich anzustrengen und etwas zu erreichen – und das in einem Sport, in dem er seinen Namen – diesen Namen – auf dem Rücken tragen muss. Glaubt man dem Cliché ist das Last und Hilfe zugleich. Stefans Präsenz als führende Kraft wirft ebenfalls einen langen, imposanten Schatten. Doch Everts senior weiß genau um das empfindliche Gleichgewicht zwischen Werksteam, Fahrer und äußeren Einflüssen. Auch er hat seine persönlichen Erfahrungen mit Liams Großvater Harry, der noch immer als Trainer tätig ist.
Liams Fortschritte haben das Medieninteresse in seinem Heimatland zu einer Zeit wiederbelebt, in der Belgien nur noch mit den Namen von einem oder zwei Fahrern an der Spitze der Ergebnislisten auftaucht. Sein bereits frühzeitig erkennbares Potenzial hat ihm für 2023 eine KTM 250 SX-F eingebracht, und sein Aufstieg ließ ihn zu einem der Titelfavoriten für 2024 werden. Name oder nicht, Liam ist auf dem besten Weg, in der MXGP seine ganz eigenen Spuren zu hinterlassen.
Liam, obwohl der Sturz in Maggiora sehr schmerzhaft gewesen sein muss, ist 2023 doch als für dich erfolgreiches Jahr zu bewerten, richtig?
Ja, es war ein Durchbruchjahr auch weil es viele neue Dinge und ein neues Team gab. Das Umfeld war sehr professionell. Sogar dann die Grand Prix in Übersee! Diese konnte ich 2022 wegen meiner Verletzung nicht fahren. Es fühlt sich an, als wäre alles ein bisschen „explodiert“. Ich hatte ein paar schwierige erste Wochenenden, doch dann ging es aufwärts, und der erste Sieg kam. Ab diesem Moment kamen die Dinge ins Laufen. Doch 2023 war für mich auch das bisher schwierigste Jahr: die Zusammenarbeit mit meinem Vater, das Erwachsenwerden, das Alleineleben und die Frage, was ich vom Leben will. Mental war es hart, die richtige Balance zu finden.
Die Umstellung auf den Job eines Werksfahrers stelle ich mir auch als recht schwierig vor …
Zunächst war es hart für mich, denn 2022 hatte ich einige Male das Podium verpasst und eigentlich nie eine echte Top-Leistung gebracht. Potenzial hatte ich. Gezeigt habe ich das allerdings nicht wirklich. Diese Farben zu tragen und dann endlich diese erste Trophäe zu holen, war eine große Erleichterung für mich. Ich habe gezeigt, dass ich es kann und dass ich hierher gehöre. Das war wie eine kleine „Befreiung“. Danach konnte ich einfach nur noch Motorrad fahren – das war’s. Deshalb denke ich, dass 2023 für mich ein sehr lehrreiches Jahr war, in dem ich auch ein gewisses Fundament für die kommenden Jahre legen konnte.
Du hast erwähnt, dass du zum ersten Mal alleine lebst. Wie groß war diese Umstellung für dich?
Es war die bisher größte in meinem Leben. Nach Arco [dem Großen Preis von Trentino] bin ich in eine eigene Wohnung gezogen. Sie ist in Hasselt, eine ziemlich große Stadt, unweit von Zuhause. Die Wohnung liegt nur etwa 15 Minuten von meinen Eltern entfernt, die ich oft besuche. Das ist wirklich schön und ich habe Zeit für mich selbst um abzuschalten und rede nicht immer nur mit meinem Vater über den Rennsport. Ich kann einfach allein sein und einige Dinge für mich selbst klären.
Dein Stil wirkt eher kontrolliert. Man erkennt das große Potenzial, aber du scheinst immer auch zu kalkulieren. Wenn man dich mit Sasha [Coenen, Teamkollege und Landsmann] vergleicht
Ha! Das ist aber jetzt ein krasser Sprung. Doch ich glaube, du hast recht. Ich bin anders als beispielsweise Lucas [Coenen, Sashas Zwillingsbruder], der eindeutig ein großes Talent ist und gleich in seinem ersten Jahr einen Grand Prix gewonnen hat. So bin ich nicht, und das akzeptiere ich. Was ich in meinen Augen aber habe – und einige Fahrer hingegen nicht – ist die Fähigkeit zu ständiger Weiterentwicklung. Ich lerne permanent, und ich verbessere mich permanent. Ich sehe, dass ich in vielerlei Hinsicht viel erreichen kann. Das will ich, dazu bin ich bereit, und das wird sich hoffentlich auch positiv auf meine Ergebnisse auswirken.
Glaubst du an die mentale Seite des Sports?
Ja. Und der größte Fortschritt, den ich noch machen kann, liegt im mentalen Bereich. Dieser Aspekt steht in diesem Winter ganz oben.
Geht es dabei darum deine Richtung zu finden? Oder mehr um den Glauben?
Ich glaube, das das Hauptthema ist der Druck, den ich mir selbst mache. Niemand ist härter zu mir als ich selbst. Ich suche eigentlich auch nie nach Ausflüchten. Wenn ich das Problem bin, akzeptiere ich das. Dann sage ich den Leuten in meinem Umfeld: „Das Problem liegt bei mir, ich bin nicht gut genug.“ Andere Jungs würden ein schlechtes Ergebnis vielleicht auf ihr Motorrad zurückführen. Ja, mental gibt es viel zu tun.
Was bedeutet dir „Selbstvertrauen“? Wie definiertst du es?
Ich denke es geht darum, den Glauben an sich selbst aufzubauen. Schau dir meine Trainingsläufe an. Ich komme nur selten unter die ersten fünf. Ich weiß aber, dass ich beim Qualifying eigentlich unter die Top drei gehöre, und dieser Glaube ist so stark gewachsen, dass mir selbst die [Hot Laps] nicht mehr so wichtig sind. Für ein 20-Minuten-Rennen braucht es mehr als nur eine schnelle Runde. Die würden viele schaffen.
Du hast ein enges Verhältnis zu deinem Vater. Doch wenn du siehst, welche Spuren Joel Smets und Fahrer wie Aldon Baker in den USA hinterlassen haben: Gibt es bestimmte Techniken oder andere Erfahrungen, auf die du besonders neugierig bist?
Hm, eigentlich nicht, denn ich glaube, mein Vater kann mir viel geben, und ich habe das Gefühl, dass ich viel von ihm lernen kann. Dieses Jahr war für mich eine große Umstellung, weil ich nach dem Rennen wieder die richtige Balance finden musste – und weil er mir sagte, was ich falsch gemacht habe. Er war da sehr direkt! An diesen Punkten haben wir gearbeitet. Was mich betrifft, arbeiten wir noch immer daran. Die Arbeit der anderen interessiert mich dagegen nicht so stark. Ich konzentriere mich lieber auf das, was ich mache und was wir als Team machen.
Viele Fahrer sind diesen Weg gemeinsam mit ihrem Vater gegangen. Doch wenn das Coaching aufhört und die väterliche Seite beginnt …
Es ist sehr schwierig. Manchmal … habe ich nicht wirklich einen Vater … aber wir machen so viele Dinge zusammen. Und viele davon sind richtig schön, beispielsweise gemeinsam Enduro fahren. Doch es ist eine ganz andere Vater-Sohn-Beziehung als üblich.
Nach deinem ersten Sieg hast du gescherzt, dass noch weitere 100 folgen würden. Ob es dir gefällt oder nicht: Dein Leben und deine Karriere waren bisher von Erwartungen geprägt …
Damit umzugehen, ist sehr schwer. In diesem Jahr habe ich damit begonnen, ein bisschen Show zu machen, um zu Hause in den Medien mehr Präsenz zu haben, aber das liegt nicht wirklich in meiner Natur. Mein Vater ist da ganz anders. Er mag die Aufmerksamkeit. Ich dagegen lerne erst noch, dass ich eine gewisse Rolle zu spielen habe, auch im Alltag. Ich muss das akzeptieren, auch wenn es mir schwerfällt, weil ich gern ein „normales“ Leben führe und mein eigenes Ding mache.
Die Aufmerksamkeit um deine Person wird noch größer werden. Für die belgischen Motorsportfans bist du schon jetzt ziemlich wichtig
Ich denke, meine Persönlichkeit und die Art, wie ich mich den Fans zeige, wie ich mit ihnen umgehe, sind sehr wichtig. Ich gebe jedenfalls mein Bestes. Manchmal ist es schwer, das alles abzuwägen – ich bin erst 19. Und manchmal kann man gar nicht verhindern, dass etwas schiefgeht. Dann muss man einfach durch.
Red Bull KTM Factory Racing are READY TO RACE MXGP 2024