Mit der KTM 250 SX-F sicherte sich KTM im Mai 2024 den dritten Sieg in der AMA-Supercross-Meisterschaft – zum Ersten Mal seit fast zehn Jahren. Kurioserweise hat ausgerechnet Tom Vialle dieses Kunststück vollbracht und damit eine Serie von ausschließlich europäischen Fahrern fortgesetzt, die diese amerikanischste aller Motorradsportdisziplinen in der 250 cc Klasse für sich entscheiden konnten. Der 23-jährige Franzose spricht über die Grundlagen dieses Erfolgs...
Von Adam Wheeler
Die jüngsten Erfolge von KTM in der Königsklasse „AMA Supercross“ wurden von Ryan Dungey, Cooper Webb und nun Chase Sexton errungen. Doch das Unternehmen hat in Vorbereitung auf die Rennen in der 250 SX Klasse (die seit Mitte der 1980er Jahre in eine neun Runden umfassende West- und Ostküstenmeisterschaft geteilt sind) hart gearbeitet. Schließlich sollte das wohl meistdekorierte Motorrad von KTM – die KTM 250 SX-F – ebenfalls einen Sieg einfahren.
In den USA musste die KTM 250 SX-F bis 2013 auf den ersten Gesamtsieg warten. Damals konnte sich der Deutsche Ken Roczen den Titel in der Westküstenmeisterschaft sichern. 2015 holte sich Marvin Musquin an der Ostküste die Krone. Der erst dritte Sieger ist wieder ein Franzose: Tom Vialle, der FIM MX2-Weltmeister von 2020 und 2022, triumphierte 2024 in der Ost-Meisterschaft.
Das Jahr 2023 und eine gewisse Lernphase hatte Vialle benötigt, um im Supercross sein besonderes Leistungsniveau zu erreichen. Mit seinem FACTORY EDITION Race-Bike holte er 2024 sieben Podestplätze und zwei Siege. Damit war er der dritte Athlet, der sowohl die Weltmeisterschaft als auch die AMA Championship für sich entscheiden konnte.
Als Red Bull KTM Factory Racing Fahrer konnte Vialle auf die Unterstützung von Teammanager Ian Harrison, der Ikone Roger de Coster und der gesamten im kalifornischen Murrieta ansässigen Crew bauen. Nicht zu vergessen natürlich seine Eltern (Vater Frederic war selbst Rennfahrer) und seine Familie, die mit ihm gemeinsam den Sprung über den Atlantik gewagt haben.
Aber eine der größten Geschichten rund um seine jüngste Karriereleistung ist das Tempo in dem sich Vialle zurechtfand und in dem er schließlich brillieren konnte.
Noch als Teenager wurde Tom Vialle 2018 von Joel Smets, dem KTM VP of Offroad, Robert Jonas und den anderen Verantwortlichen des Red Bull KTM Teams als zweiter Fahrer neben dem Meisterschaftsgewinner Jorge Prado für die MX2-Klasse ausgewählt. Zu diesem Zeitpunkt war Vialle ein Fahrer in der Europameisterschaft aus dem Mittelfeld, noch ohne Sieg in der EMX. Viele MXGP-Fans überraschte dieser Vertragsabschluss, doch Smets hatte Vertrauen in die technischen Fähigkeiten, das Potenzial und vor allem die Einstellung von Tom Vialle. Als Grand-Prix-Rookie gewann Vialle 2019 den Grand Prix in Schweden, schaffte es siebenmal auf einen Podestplatz und wurde in der Gesamtwertung Vierter.
Als er Ende 2022 seinen Wohnsitz in die USA verlegte, blickte Vialle auf vier aufeinanderfolgende Rennserien in der MX2 zurück, in denen er die Plätze 4-1-3-1 erreichen, 24 Grands Prix (also durchschnittlich sechs pro Saison) gewinnen und MX2-Holeshots mit der KTM 250 SX-F dominieren konnte. In welchem Tempo es ihm gelang, sich das für derartige Erfolge erforderliche Wissen anzueignen und in Bezug auf Fitness, Renntechnik und Renntaktik ein völlig neues Niveau zu erreichen, war faszinierend. In der jüngeren WM-Geschichte gibt es nur wenige Fahrer, die innerhalb so kurzer Zeit so viele Trophäen gewonnen haben.
Obwohl Supercross für Vialle mit einem Wechsel der Rennsportszene, einem Wechsel in der Technologie (die KTM 250 SX-F ist ein Prototyp in der MX2), anderen Rennanforderungen und durch den Umzug in die USA auch mit einem neuen Lebensstil verbunden war, gelang ihm innerhalb eines einzigen Jahres der große Durchbruch. Nun hofft er auf die Red Plate im Pro National-Motocross diesen Sommer und damit seine Erfolgsbilanz in der 250er-Klasse zu komplimentieren. „Es ist einfach so anders“, sagt Tom über seinen Karrierewechsel. „Wir haben neun Rennen im Supercross und etwa 20 Motocross-GPs in Europa. Die Weltmeisterschaft ist deutlich länger, und deshalb ist man nicht gestresst, wenn man mal ein Rennen aussetzen muss oder stürzt. In den USA darfst du dir keinen Fehler erlauben. Ansonsten ist die Meisterschaft für dich gelaufen. Alles ist enger getaktet – und es ist erst mein zweites Jahr. Ich muss noch viel verbessern.“
„Mein Ziel war es, hierher zu kommen und etwas Neues auszuprobieren“, erinnert er sich. „Als ich 2022 im Winter hier ankam, versuchte ich, alles Vergangene hinter mir zu lassen und von vorn anzufangen. Ein anderes Leben. Klar, ich hatte meine [GP]-Erfahrung. Doch ich musste einen kompletten Neustart wagen. Es war hart für mich ... doch das Team war unglaublich erfahren und konnte mir sehr helfen, insbesondere 2023. Es war schön, die Strecken und die Rennen kennenzulernen und die Verbindung zu den Jungs aufzubauen. Nun sind wir auf einem guten Weg und können um den Meisterschaftstitel kämpfen.“
„Irgendwie habe ich es wohl genau so gemacht“, sagt er lächelnd, als er an seine zweijährige Lernphase zurückdenkt, die mit dem Sieg ihren vorläufigen Höhepunkt fand. „Es ist schon ziemlich erstaunlich. Da hat man mal einen schlechten Tag erwischt, man fühlt sich nicht gut oder glaubt, man sei langsam unterwegs, und dann steht man doch auf dem Podest und fährt eine Menge Punkte ein: so gewinnt man eine Meisterschaft.“
„Wie schnell er es geschafft hat, ist schon erstaunlich“, sagt Teammanager Ian Harrison. „Kenny Roczen hat den Titel geholt, Marvin auch. Doch beide haben etwas länger gebraucht. Es ist ein hervorragende Ergebnis und ich ziehe meinen Hut vor Tom. Er ist mit nichts als einer Tasche und ein paar Sachen von zu Hause weggegangen, um hierher zu kommen. Am Anfang gibt es so viel zu tun: Man braucht einen gültigen Führerschein, eine Wohnung, muss die Strecken finden ... Deshalb ist die erste Saison für uns nicht so wichtig – schon allein das Einstellen des Bikes ist wegen der Federung deutlich anders. Es dauert einfach seine Zeit, bis alle Dinge ins Rollen kommen. Tom ist ein sehr kalkulierter Fahrer, sehr ruhig, und er trifft wohldurchdachte Entscheidungen, im Wettkampf und auch beim Training. Er macht sich immer viele Gedanken und ist ein fantastischer Rennfahrer. Er ist einfach immer bereit, sofort loszulegen.“
Der Schlüssel zur Erfolgsstory von 2024 findet sich hinter den Kulissen: in der Zusammenarbeit mit Sexton, im „Aufsaugen“ der Tipps von Musquin und schließlich in der Abstimmung der KTM 250 SX-F. Vialle führte alle Komponenten zusammen. „Von Chase zu lernen, war einfach großartig. Seit November sind wir fast jeden Tag gefahren oder haben trainiert“, verrät er. „Ich könnte mir keinen besseren Trainingspartner wünschen. Auch mit Marvin habe ich trainiert, das war im Jänner. In dieser Zeit habe ich am meisten gelernt. Er hat schon so viele Siege eingefahren, und er versteht mich. Auf der Strecke sieht er viele Dinge, die andere vielleicht nicht sehen. Und ich denke, im Vergleich zum Vorjahr hat sich das Bike stark verbessert. Wir hatten einen grandiosen Winter, und auch dafür möchte ich dem Team danken.“
Auch die Anwesenheit seiner Familie war ihm wichtig. Sie ist der Beweis dafür, das Fahrer und Bike nicht für einen Eintrag in die Geschichtsbücher des Sports reichen. „Um ehrlich zu sein: Ich weiß ich nicht, ob mir dieser Schritt ohne meine Familie auf diese Weise gelungen wäre“, gibt er zu. „In Europa nimmt man das gar nicht so wahr, doch wenn man erst einmal den Schritt gewagt hat, wird einem das sehr schnell klar. Wenn du gewinnst, ist alles cool... Doch wenn es einmal nicht so läuft, dann brauchst du sie am meisten.
Kündigen sich bereits weitere Siege an? Mit dem Motocross und den drei Runden SMX-Playoff ist die AMA-Saison 2024 noch lang genug. Orange wird sein Tempo halten. Tom auch.