EIN MOTOGP™-BIKE FORMEN

Jack Millers erste Saison auf einer KTM RC16 im Red Bull KTM Factory Racing-Team der MotoGP™ neigt sich dem Ende zu. Der 28-jährige Australier ist bereits drei verschiedene Motorräder der Königsklasse gefahren und konnte damit Podestplätze einnehmen. Doch was genau muss man tun, um ein „Rennpaket“ zu modellieren, das bis zu 360 km/h erreichen kann?

Von Adam Wheeler

„Mit dem ersten Kontakt, wenn du den Lenker, die Hebel und die Fußrasten spürst, wird es deines“, Jack Miller über den Individualisierungsprozess seines Rennbikes. PC: Rob Gray

In seiner ersten Runde bei der MotoGP™ 2023 in Portugal überraschte Jack Miller alle. Die Startnummer 43 wagte rasante Abfahrten wie auf einer KTM SX-F, machte Stoppies und unterwarf seine neue RC16 auf dem Algarve International Circuit seinem Willen, als sei er ein „KTM-Veteran“. Tatsächlich hatte Miller vorher nur sechs volle Tage Zeit zur Vorbereitung auf sein erstes Rennen mit diesem Bike in der MotoGP™-Klasse, wo aerodynamische Optimierungen und andere Prototyp-Innovationen dazu führen, dass die besten Fahrer der Welt im Ziel oft nur um Sekundenbruchteile voneinander getrennt sind. Sein Level an Sicherheit und Vertrautheit im Umgang mit dem Bike und damit sein Tempo überraschte viele – seitdem ist er regelmäßig an der Spitze des MotoGP™-Feldes zu finden.

Sein Verständnis für das Bike und die Fähigkeit eine Einheit damit zu bilden, zählen zu Millers größten Stärken im Rennsport. PC: Rob Gray | Polarity Photo

Natürlich ist Miller ein talentierter Fahrer, der schon mehrere Grand Prix gewinnen konnte, zudem 23 Podestplätze erreichte und dessen unbestrittenes fahrerisches Können nicht von den Reifen abhängt. Doch diese Anpassung an den Charakter und die Eigenheiten eines völlig neuen Motorrads gelang schon erstaunlich schnell. Waren nur die ergonomischen Eigenschaften entscheidend? Waren es andere, individuelle Faktoren? Es ist kein Geheimnis, dass Miller und seine Crew hart an der Optimierung der letzten Feinheiten (Elektronik, Balance, Chassis) gearbeitet haben, um aus einem soliden Anwärter auf einen 7. bis 8. Platz einen zuverlässigen Kandidaten für die Podestplätze zu machen. „Ja, das hat sich bei mehreren GPs in diesem Jahr wiederholt: Ich will vorankommen, doch wie bekomme ich dieses Gefühl, besser zu sein?“, fragt er uns etwas nachdenklich. „Das Niveau ist sehr hoch und entwickelt sich stetig weiter, so dass man immer auf der Suche nach dem „gewissen Extra“ ist.“

Mit der RC16 eine Einheit zu bilden, war in diesem Jahr eine neue Herausforderung, die Miller innerhalb weniger Tage und Wochen zu 80-90 % bewältigt hat. Er und sein Team haben hart daran gearbeitet, die verbliebene Lücke zu schließen, doch das kann natürlich ein kniffliger, anspruchsvoller Prozess nach dem Prinzip „Trial and Error“ sein. Heute interessieren uns zunächst die 80-90 %. Sie sind erstaunlich genug, wenn man bedenkt, wie viel Vertrauen Jack in sein Motorrad stecken muss, um damit die Grenzen des Risikos zu testen.

Ein perfekt eingestelltes Bike braucht ein Team, dass das Feedback gut umsetzen kann und selbst mit Leidenschaft dabei ist. PC: Rob Gray | Polarity Photo

Jack, das Erste, was bei einem völlig neuen Rennmotorrad passen muss, ist die Ergonomie, richtig? Du musst deine Position, deinen optimalen „Platz“ auf und mit dem Bike finden…

Das stimmt. Schließlich steigst du auf eine Maschiene, die vor dir ein anderer gefahren ist. Doch mit dem ersten Kontakt, wenn du den Lenker, die Hebel und die Fußrasten spürst, wird es deines. Aber, um ehrlich zu sein: Am Anfang möchte ich meist gar nicht so viel verändern. Ich möchte einfach losfahren und das Bike kennenlernen, denn schließlich gibt es eine Reihe von Gründen dafür, dass es so eingestellt ist, wie es ist. Dann nimmst du allmählich die ersten Anpassungen vor. Viele haben ganz konkrete Ansprüche und verlangen eine bestimmte Sitzbankhöhe oder einen bestimmten Einstellwinkel der Hebel, doch diese beziehen sich letztlich immer auf ein anderes Motorrad. Ich denke, man sollte zunächst sein Ego etwas zurückstellen und das Bike erst einmal kennenlernen, ehe man damit beginnt, es nach den eigenen Vorstellungen zu formen.

Miller lernt sein Bike gerne erst einmal kennen, bevor er etwas daran verändert. PC: Rob Gray | Polarity Photo

So aufgeschlossen zu sein, erfordert eine beachtliche Disziplin …

Klar, aber die braucht man schon früh in seiner Karriere. Ich habe diesen Ansatz über die Jahre in der MotoGP™ gelernt und weiß, wie wichtig es ist, in allen Bereich nach Verbesserungen zu streben. Macht man das nicht, kann man viel übersehen und Chancen ungenutzt lassen.

Gibt es viel Spielraum für die individuelle Gestaltung eines Rennbikes?

Durchaus, doch dann geht es auch ans Eingemachte. An einem Motocross-Bike kannst du nicht so viel verändern. Was dort die Lenkerkrümmung ist, ist für uns der Winkel der Clip-ons. Wir haben viel mehr Freiheit, etwas auszuprobieren, als diese Jungs [die Motocrosser]. Sie arbeiten vielleicht an der Höhe der Fußrasten, was wir auch tun, doch wir können außer den Fußrasten und den Hebelpositionen noch einiges mehr verändern, etwa die Positionen der Tasten, des Kombiinstruments sowie, und da wird es ein bisschen komplexer, die Lage der Knie am Kraftstofftank.

Durch das Adjustieren sämtlicher Teile, die verändert werden können, wird die KTM RC16 zu einem Bike, das exakt den körperlichen aber auch mentalen Eigenschaften des Red Bull KTM Factory Riders entspricht. PC: Rob Gray | Polarity Photo

Hast du schon nach den ersten Runden ein Gefühl dafür, was verändert werden muss?

Definitiv. Als ich in Valencia [2022 beim eintägigen Nachsaisontest] auf die Strecke rollte, fühlte ich mich, als würde ich auf dem Vorderreifen sitzen. Das war weniger eine Frage der Ergonomie als vielmehr der Einstellung des Bikes, damit es möglichst kurz und straff ist. Also habe ich den Jungs gesagt, dass ich die volle Kraft der Bremsen nicht so nutzen kann, wie ich es gewohnt bin, und auch nicht so beschleunigen kann, wie ich eigentlich möchte.

Und wie sieht es mit Sattel und Tankform aus?

Damit experimentieren wir noch immer, jetzt vielleicht mehr als je zuvor. Diese Dinge verfeinert man erst, wenn man sich bereits wohlfühlt. Da will man vielleicht hier etwas mehr Grip oder Halt und dort etwas mehr Kontaktfläche. Bis zum ersten Rennen weiß man eigentlich nie so genau, wo man steht. Aber ich denke, das ist für die Vorbereitung in vielen Sportarten charakteristisch. Die Stunde der Wahrheit ist immer der Wettkampf; erst dann geht es an die Substanz. Dann musst du dich möglichst gut fühlen und möglichst viel Selbstvertrauen haben. Ich habe übrigens festgestellt, dass ich Selbstgespräche führe: „Das fühlt sich schon besser an“, „Das geht gar nicht“ oder „Hier kann ich nicht bremsen“ – so macht man sich im Kopf seine Notizen. Deine Sinne sind immer in Alarmbereitschaft, du achtest auf jede Kleinigkeit im Verhalten des Motorrads und versuchst, möglichst präzise zu sein. Du solltest dir alles merken und dann als Feedback an die Jungs in der Box weitergeben.

Sein eigenes Rennbike zu schaffen bedeutet auf jede Kleinigkeit zu achten und präzise zu sein. PC: Rob Gray | Polarity Photo

Es muss ein gutes Gefühl sein, über etwas zu verfügen, das speziell für dich entwickelt wurde …

Das ist schon eine verrückte Beziehung. Sie kann Segen und Fluch zugleich sein, denn wenn du dich auf das Motorrad eines anderen setzt, fällt es leicht, zu denken „Mein Gott, was ist das denn für eine Sch…, oder oh, das passt gut“. Doch wenn du dir dein eigenes Bike zusammengestellt hast, musst du dabei bleiben und Verantwortung dafür übernehmen. Natürlich sind wir nur so gut wie das Material, das wir bekommen. Doch wenn dein Feedback und deine Kommentare berücksichtigt werden, was wiederum davon abhängt, wie gut der Hersteller ist, dann solltest du auch in der Lage sein, ein ordentliches Rennen damit zu fahren.

Die Qualität des Motorrads ist auch ein Spiegelbild deiner Fähigkeiten …

Man versucht, nicht so oft daran zu denken, aber natürlich ist dieser Gedanke immer präsent. Wenn du deinen Job gut machst, sollte es keine Fragen geben. Du solltest dich mit deinem Bike wohlfühlen. Doch wenn das nicht so ist, solltest du keinem anderen die Schuld geben: Du sagst schließlich dem Team, was zu tun ist.

„Wenn man darüber nachdenkt, ist es schon eine ziemlich coole Sache, in einer solchen Position zu sein, mit dem Motorrad eine Einheit zu bilden und so intensiv daran arbeiten zu können, wie wir es tun“, Jack Miller über seine Arbeit. PC: Rob Gray | Polarity Photo

Andererseits muss es auch sehr erfüllend sein, etwas entwickeln zu können, das seinen Job richtig macht…

Genau. Es ist eines dieser befriedigenden Dinge. Vielleicht läuft es mal in dem einen oder anderen Rennen nicht so gut, doch man muss immer „das große Ganze“ im Blick behalten. Wenn man darüber nachdenkt, ist es schon eine ziemlich coole Sache, in einer solchen Position zu sein, mit dem Motorrad eine Einheit zu bilden und so intensiv daran arbeiten zu können, wie wir es tun. Wir können so viel verändern, basteln und anfassen. Man kann sich auch recht schnell verrennen, doch für diesen Fall musst du dich mit der richtigen Crew umgeben. Letztlich wirst du als Fahrer und nicht als Ingenieur bezahlt. Alles was du tun kannst ist dein bestes Feedback geben und hoffen, dass die Jungs es richtig interpretieren. Es ist einfach cool, rückblickend feststellen zu können: „Dieses Bike ist so unfassbar schnell, und das haben wir gemeinsam geschafft.“