Warum beschäftigt Red Bull KTM Factory Racing einen eigenen Physiotherapeuten, und warum absolvieren die MotoGP™-Fahrer am Red Bull Athlete Performance Centre ein so umfangreiches Programm?
Von Adam Wheeler
Flavio Dromi ist schwer zu übersehen. Der großgewachsene 34-Jährige strahlt Autorität aus, wenn er in der Red Bull KTM Factory Racing Box unterwegs ist. Mit seinem langen Vollbart und der imposanten Sonnenbrille wirkt er auf den ersten Blick wie ein Bodyguard. Doch der zurückhaltende Italiener fügt niemandem Schmerzen zu, sondern ist Experte darin, diesen zu behandeln.
Flavios Anwesenheit bei jeder einzelnen Runde der 20 Rennen umfassenden MotoGP™-Meisterschaft ist Teil des von KTM für die eigenen Fahrer entwickelten Gesundheitsprogramms. So soll in Zusammenarbeit mit dem Red Bull Athlete Performance Center (APC) sichergestellt werden, dass die an der MotoGP und der KTM GP Academy teilnehmenden Talente das Potenzial ihrer mehrere Millionen Euro teuren Renntechnik maximal ausschöpfen können. Dromis wichtigste Schützlinge im Jahr 2024 waren Brad Binder und Jack Miller. In letzter Zeit hatte er besonders viel zu tun, da die MotoGP™ innerhalb von acht Wochen in San Marino, Indonesien, Japan, Australien, Thailand und Malaysia gastierte. Nun steht das Finale kurz bevor und steht am Ende eines Wettkampfjahres, das im Februar in Malaysia mit dem ersten Vorsaisontest begann.
Die Teilnahme an den Grand-Prix-Rennen ist nicht günstig. Der wichtigste Teil dieser Investitionen ist den Händen und dem Mut der Fahrer anvertraut. Sie bestmöglich in Form zu halten, zahlt sich aus, denn früher oder später werden sie unfreiwillig direkten Körperkontakt mit dem Asphalt haben. Im Jahr 2024 waren Binder und Miller bis zum vorletzten Grand Prix in Sepang 34-mal gestürzt. „Es gibt eine 50-50 Chance, das Ziel zu erreichen. Vielleicht klappt es, vielleicht auch nicht. Dieses Risiko ist oft unvermeidlich“, sagt Jack über die Notwendigkeit, bei der fliegenden Runde in der Qualifikation an die Grenzen zu gehen.
Bei einem Grand Prix ist Dromis Tagesplan besonders eng. „Als Physiotherapeut versuche ich, die Jungs bei der Gesunderhaltung ihrer Muskulatur zu unterstützen, denn die MotoGP™ ist ein harter Sport – für die Arme, aber auch für den gesamten Körper“, sagt er. „In der Regel wird jeder Fahrer jeden Tag einmal von mir behandelt, damit Verspannungen reduziert werden und er startklar für das nächste Rennen ist. Wir versuchen Problemen vorzubeugen. Treten sie doch auf, versuchen wir, sie zu beheben oder zu lindern, etwa durch Lockerung des Muskelgewebes zur Behandlung von Schmerzen und Steifigkeit. Außerdem bemühen wir uns um maximale Mobilität in den Gelenken. Die Fahrer sollen sich auf der Strecke möglichst wohlfühlen, denn ein Motorradrennen ist mental und physisch extrem herausfordernd. Sie müssen also entspannt, aber auch sehr leistungsstark sein.“
Bremsen, Beschleunigen, Richtungswechsel, aerodynamische Lasten, eine hohe Pulsfrequenz: Die MotoGP™ verlangt körperlich alles ab. Deshalb verschafft sich Dromi bereits vor der Abreise seines Teams zu einem Grand Prix einen Überblick über die Aufgaben, die ihn möglicherweise erwarten. „Als Erstes checken wir immer den Streckenverlauf“, erläutert Flavio, der sich bereits als Kind für den Motorrad-Rennsport begeisterte und nun in seine zweite MotoGP™-Saison mit KTM und sein viertes Jahr als Mitarbeiter des Red Bull APC geht. „Gibt es mehr Links- als Rechtskurven? Gibt es mehr schnelle Kurven, in denen die Fahrer das Bike schnell lenken müssen? Das kann dann insbesondere für ihre Unterarme anstrengender sein. Wird hingegen häufig gebremst, sind die Schultern stärker gefordert. Der Oberkörper muss einiges aushalten. Doch die untere Körperhälfte auch. Bei Regen müssen die Fahrer die Hüften stärker öffnen, um in den Scheitelpunkten mehr Kontrolle zu haben, und das kann mehr Schmerzen verursachen als üblich.“
Hinzu kommen die Folgen eines Sturzes. „Ein Sturz kann ein kleiner Ausrutscher sein. Aber es kann auch schlimmer kommen, etwa bei einem Highsider. Dann drohen Knochenbrüche, Entzündungen und Schmerzen. Schmerzmittel nehmen die Fahrer wegen ihrer Nebenwirkungen nicht so gern: Sie wollen sicher sein, ihr 330 km/h schnelles Motorrad immer unter Kontrolle zu haben. Deshalb sind Schmerzmittel die letzte Option, und Jack und Brad können ordentlich viel Schmerz einstecken.“
Für die Fans an der Strecke und vor den Bildschirmen kann die MotoGP™ trügerisch sein. Nach einem Sturz werden die Fahrer in der Regel schnell wieder in die Box zurückgebracht und erreichen mit ihrem zweiten Motorrad sofort wieder schnellste Rundenzeiten. Doch abgesehen von den mentalen Anforderungen, die mit diesen Risiken und gesundheitlichen Gefahren verbunden sind, gibt es auch jene Beulen, Abschürfungen und Prellungen, die erst später sichtbar werden, all die Stoßverletzungen, Beschwerden und schlaflosen Nächte, die keiner sieht. Oder, wie Dromi es formuliert: „Es gibt immer ein Nachspiel. Unmittelbar nach einem Rennen wird ein Fahrer wohl nie sagen, dass er sich schlecht fühlt. Dafür sorgt schon das Adrenalin. Es ist ein wichtiges Hormon in unserem Körper. Nach einem Unfall ist der Adrenalinspiegel in der Regel besonders hoch. Doch eine halbe oder eine Stunde später, nach dem Rückgang des Adrenalins, nimmt das Schmerzempfinden zu, und man kann sich nicht mehr normal bewegen. Dann beginnt unsere Arbeit. Wir versuchen alles, damit es den Fahrern in Vorbereitung auf das nächste Rennen wieder besser geht. Normalerweise ist die Zeit sehr knapp und die Fahrer haben jede Menge zu tun: Pressetermine, Meetings, Werbeauftritte. Wir versuchen, unsere Zeit optimal zu nutzen.“
Während Flavio sich um einen Fahrer kümmert, wird dessen KTM RC16 von einem Mechaniker oder Techniker in der Box repariert oder vorbereitet. „Insbesondere nach einem schweren Sturz, von dem bestimmte Bereiche betroffen sind, muss man sich die am stärksten schmerzenden Stellen ansehen. Dann gilt es zu prüfen, welche Verletzung in der kurzen Zeit, die verfügbar ist, Priorität hat“, erläutert er. „Wir bitten die Fahrer immer, die Schmerzintensität in Zahlen anzugeben, und versuchen dann, diese Intensität möglichst schnell zu verringern. Dabei ist die Physiotherapie ein möglicher Ansatz, manchmal manuell, manchmal mit technischer Unterstützung. Manuelle Behandlung muss zeitlich begrenzt bleiben, denn sie ist eine andere Form von Stress für den Körper. Zaubern können wir nicht. Wir versuchen nur, den Körper so zu unterstützen, dass er sich schneller erholt. Behandelt man allerdings zu intensiv, erreicht man möglicherweise den gegenteiligen Effekt.“
Die technische Crew hat Zugang zu allen Daten zum Bike sowie zu den Aufzeichnungen der Experten an der Strecke und im Motorsport HQ in Österreich. So liegen Flavio auch die physischen Daten von Binder und Miller aus ihrer Zeit am APC in Thalgau vor. Der Südafrikaner und der Australier kommen immer am Jahresanfang für einige Tage nach Österreich und legen ihre Preferenzen fest. „Das Großartige am APC ist, dass sie einen über die gesamte Saison im Augen behalten“, sagt Binder. „Zunächst musst du die verschiedensten Tests absolvieren. Der Ausdauertest ist ja noch ganz normal, doch es gibt auch spezielle Tests für den Oberkörper, den Unterkörper und sogar das Reaktionsvermögen. Sie sagen dir in allen Bereichen, wo du stehst. So erfährst du auch, wo du dich verbessern musst, um ein rundum besserer Sportler zu werden. Außerdem hast du die Möglichkeit, mit ihren Ernährungsberatern, ihren Coaches und ihren Ärzten zusammenzuarbeiten, um Verletzungen zu behandeln. Das ist ein echter Vorteil.“
„Die MotoGP™ ist eines der größten Betreuungsprogramme [im APC]. Es ist eine große Ehre, Teil dieses Programms zu sein“, ergänzt Flavio. „Im APC unterstützt man dich mit Berichten, aber auch mit Konditionstrainern bei der Steigerung deines Leistungsniveaus. Auch Ernährungsberatung und psychologische Unterstützung werden angeboten. Deshalb ist das APC ein wichtiger Teil der Red-Bull-Welt. Wir helfen den Sportlern in jeder Hinsicht.“
„Wir sind ein Team“, fügt er später im APC hinzu. „Wir teilen alle Daten unserer Fahrer. Als uns klar war, wie wir arbeiten und dass wir ein großes Netzwerk schaffen können, hatten wir ein gutes Gefühl: Schließlich absolvieren wir hier erst das zweite Jahr unseres vollen Programms für die MotoGP™.
„Es ist toll, wenn man alles zur Verfügung hat, was man braucht, vor allem für die Physiotherapeuten, die Trainer, ihr Programm und die Interpretation der Testergebnisse: ein vollständiger Gesundheitscheck“, meint Miller. „Das läuft über die gesamte Saison und hilft dabei, die physischen Werte, die Blutwerte und das Leistungsniveau im Blick zu behalten. Einfach fantastisch.“
Miller ist 29 Jahre alt und sah in seiner mittlerweile zehn Jahre andauernden Karriere in der MotoGP™ selten fitter aus als derzeit, 2024. „Das liegt an der engen Zusammenarbeit mit dem APC“, ist er überzeugt. „In den letzten zehn Jahren habe ich immer mein eigenes Programm gemacht. In diesem Jahr sind wir zu einem anderen Trainingsprogramm übergegangen. Ob ich in Australien bin oder in Andorra: Ich kann es verfolgen oder mir die Ergebnisse per E-Mail zusenden lassen. Sie programmieren die Durchgänge oder Zyklen entsprechend den Herzfrequenzen, die wir erreichen sollen. Das kann durchaus vier Stunden dauern, und dann überprüfen sie meine Werte und lassen sie von einem Experten durchsehen.“
2023 und 2024 hat Flavio mit Binder und Miller, aber auch mit den anderen Fahrern im KTM Grand Prix-Kader eng zusammengearbeitet. In der 60-köpfigen MotoGP™-Crew gehört er zu jenen Leuten im Hintergrund, die einen unschätzbar wertvollen Beitrag zu besten Ergebnissen auf der Strecke und vor den Kameras leisten. „Es ist großartig, Flavio hier zu haben, denn als Motorradfahrer bist du selten bei 100 %“, sagt Binder. „Man stürzt ja nicht nur im Wettkampf, sondern auch im Training! Im Saisonverkauf summiert sich das alles. Er ist wirklich eine große Hilfe, vor allem bei leichteren Stürzen und Wehwehchen. Man baut eine Beziehung zueinander auf und findet dann heraus, was das Beste für einen ist.“