DER ERFAHRENE BLICK IN DER MOTOGP™

Nur ein Rennfahrer weiß, wie ein Rennfahrer tickt: Mika Kallio hat eine einzigartige Rolle im MotoGP-Projekt von KTM inne. Wir wollten mehr über seine Arbeit wissen und erfahren, wie diese zum Erfolg der Fahrer beiträgt…

Von Adam Wheeler

„Bei meinem Job geht es darum, die Fahrer zu unterstützen und ihnen mitzuteilen, was ich auf der Strecke sehe…“ – Mika Kallio PC: Polarity Photo

Mika Kallio hat 16 Grands Prix gewonnen und konnte sich fast 50 Podiumsplätze bei Weltmeisterschaftsrennen sichern (33 davon mit KTM-2-Takt-Technik). Seit er 2016 zum Hauptentwicklungsfahrer ernannt wurde, ist der 40-jährige Finne ein fester Bestandteil des MotoGP™-Programms von KTM und absolvierte neben seiner Rolle als Testfahrer bis 2020 13 Wildcard- oder „Fill-in“-Starts.

Anfang 2022 wurde Mika dann zum offiziellen „Rider Coach“ für das Unternehmen und die vier Personen, die die Kontrolle über die RC16 haben. Das bedeutet, dass er inzwischen mehr Zeit mit beobachten verbringt, als selbst am Gasgriff eines KTM-Prototyps zu drehen. Und dennoch sind bei diesem Job seine ganz besonderen Fähigkeiten gefragt.

Mika Kallio auf der KTM RC16 am Circuito de Jerez 2021. PC: Polatity Photo

Die Aufgabe eines Rider Coachs ist vielleicht nicht ganz das, was man sich im ersten Moment darunter vorstellt…

… denn wir kennen das Niveau der Fahrer bereits, und sie wissen, wie man das Bike fährt. Bei meinem Job geht es also eher darum, sie zu unterstützen und ihnen mitzuteilen, was ich auf der Strecke und an bestimmten Stellen sehe. Wenn wir Probleme haben, schaue ich, ob ich die Ursache dahinter erkennen kann. Manchmal helfe ich auch bei Entscheidungen zum Set-up oder der Reifenwahl. Ich kenne die Fahrerperspektive, kann aber auch analytisch denken. Ich schaue mir Jacks und Brads Daten an und prüfe, wo sie vielleicht schneller sein oder sich verbessern können. Außerdem geht es mir darum, ihr Gefühl auf der Strecke mit den tatsächlichen Daten in Einklang zu bringen. Ich kann nicht zaubern, aber da es in der MotoGP heutzutage so eng zugeht, trage ich meinen Teil dazu bei, dass sie bessere Rundenzeiten abliefern. Ich bin der Einzige im Team, der die Motorräder auf der Strecke genau beobachtet, also kann ich manchmal den visuellen Standpunkt zu den Empfindungen der Fahrer kommunizieren. Das kann manchmal die Entscheidungsfindung oder den Vergleich zwischen Set-ups der anderen Bikes unterstützen.

Ein Beispiel wäre vielleicht hilfreich…

…manchmal sehe ich, wenn jemand in einem anderen Gang fährt oder anders schaltet. Gelegentlich kann ich auch etwas zur Ideallinie sagen, also „einen halben Meter nach links“ oder Ähnliches. Die Linien sind nicht leicht zu erkennen, weil sich viele der Bikes heutzutage ziemlich ähnlich verhalten, es aber nur eine schnelle Ideallinie gibt, die sie alle treffen müssen. Natürlich macht der Fahrstil auch etwas aus. Die Art und Weise, wie ein Motorrad gefahren werden muss, ist ebenso wichtig wie das Set-up. An einigen Stellen muss man vielleicht Abstriche machen, um an anderen Stellen Vorteile zu erzielen. Das ist eine der Fragen, die ich verstehen muss: Warum fährt der Fahrer so, wie er es tut? Liegt es am Stil, am Set-up oder am Charakter des Motorrads im Allgemeinen? Man kann dem Fahrer also nicht so einfache Dinge sagen wie: „Öffne früher und bremse später.“ Man muss irgendwie beweisen, dass das Feedback auch wirklich nützlich ist. Worte reichen da nicht aus.

Der KTM Rider Coach findet die perfekte Balance zwischen Fahrerperspektive und Analyse. PC: Polarity Photo

Schon seit Beginn meiner Karriere konzentriere ich mich auf die technische Seite, den Fahrstil und wie ich ihn verbessern kann…

…das bedeutet ich habe andere Fahrer oft beobachtet und geschaut, was ich von ihnen lernen kann. Ich habe immer die Daten meines Teamkollegen geprüft und überlegt, ob ich einige Dinge kopieren oder verbessern kann. Auch wenn ich an diesem Tag der Schnellste auf der Strecke war, gab es immer eine Kurve oder einen Abschnitt, in dem ein anderer Fahrer besonders gut war. Diese kleinen Dinge in meinem Fahrstil wollte ich finden. Am Ende war das eine gute Sache, denn so wusste ich mehr und blieb immer wissbegierig. Das ist auch der Grund, warum KTM mich zu Beginn des MotoGP-Projekts als Testfahrer und jetzt als Rider Coach ausgewählt hat. Es ist ein langfristiger Prozess, bei dem ich immer noch dazulerne.

Die Unterschiede zwischen Jacks und Brads Fahrstil sind ziemlich interessant…

…und es gibt definitiv Unterschiede! Letztendlich ist es für uns als Team und als Unternehmen besser, wenn jeder Fahrer seinen eigenen Stil hat … Obwohl ich zugeben muss, dass die beiden gar nicht so weit auseinander liegen. Sie ähneln sich insofern, dass sie beide gern aggressiv bremsen und die Strecke aggressiv angehen. Sie rutschen auch gerne in die Ecken. Also bevorzugen sie auch ähnliche Aspekte beim Set-up. Vergleicht man sie jedoch mit den GASGAS-Jungs, dann haben sie einen ganz anderen Fahrstil. Jack und Brad liegen nah beieinander. Das macht es für uns als Team einfacher, das Set-up zu verstehen, um beide auf ein gutes Niveau zu bringen. Die Balance ist inzwischen sehr gut.

Auch mentale Aspekte und ein Gespür für Zwischenmenschliches gehören zu Kallios Job. PC: Polarity Photo

Im Gespräch mit dem Fahrer kommt es manchmal zu heiklen Momenten…

…aber diese Verantwortung liegt auch bei anderen Teammitgliedern. Man muss die Stimmung der Fahrer berücksichtigen. Niemand ist durchgehend gut drauf. Dann muss ich sie aufbauen und versuchen, ihnen mehr Selbstvertrauen zu geben. Manchmal sind die Fahrer aber auch ein bisschen zu übereifrig und ein bisschen zu „heiß“. Dann müssen wir sie beruhigen, aber das ist ganz normal und etwas, mit dem die Crew gut umgehen kann. Bei KTM haben wir das Glück, dass Jack und Brad sehr besonnene Jungs sind. Jeder Fahrer hat Höhen und Tiefen, gute und schlechte Rennen. Die Fahrer, die die ganze Saison über gut sind, wissen jedoch, wie sie „ausgeglichen“ bleiben und dafür sorgen, dass sich die schlechten Tage fast wie gute Tage anfühlen. Spitzenfahrer wissen, wie sie sich selbst an schlechten Tagen pushen können. Für den Rest sorgt dann die Crew um sie herum. Die Crew trägt ihren Teil bei, der Fahrer muss jedoch einen Weg finden, ein möglichst durchgehendes Mindset zu halten.

Testen?! Ha! Ich bin viel unterwegs und kann deshalb nicht so viel Zeit auf dem Bike verbringen…

…ich würde es gern, aber das ist nicht immer möglich. Ich mag es, ein Gefühl für das Motorrad zu bekommen und die Spezifikationen zu verstehen, mit denen die Jungs fahren. Das ist wichtig für mein Verständnis und um sofort zu wissen, was die Fahrer meinen, wenn sie ein Problem haben. Dani [Pedrosa] fährt viel öfter, seit ich 2022 die Rolle des Coachs übernommen habe und viele Tests ausfallen lassen musste. Das ist auch der Grund dafür, dass Jonas [Folger] angeheuert wurde, um das Testteam auf der Strecke zu unterstützen. Ich würde sagen, dass das Testen in den letzten zehn Jahren sehr wichtig war. Noch wichtiger wurde es dann, als sich die Regeln änderten und die Rennfahrer nicht mehr so oft testen konnten. Dadurch kommt dem Testprogramm noch mehr Bedeutung zu. Das Testteam ist immer ein bisschen voraus, und es war echt cool, ein Teil davon zu sein. Man genießt das befriedigende Gefühl, einen gewissen Einfluss zu haben, der sich letztendlich [beim Grand Prix] auszahlt.

Nicht nur als Coach macht er eine gute Figur, auch als Testfahrer zählt Kallio als fester Bestandteil des KTM MotoGP Teams. PC: Polarity Photo

Ich war bei einigen Rennen als Wildcard dabei, und man weiß nie, was die Zukunft bringt, aber…

…ich hoffe, dass unsere Jungs fit und gesund bleiben. Ich drücke die Daumen, dass ich sie nicht ersetzen muss, aber ich muss trotzdem dafür bereit sein. Ehrlich gesagt, habe ich das Gefühl, dass dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen ist und ich alles für die MotoGP gegeben habe, was ich konnte. In meinen ersten Jahren bei KTM war ich bereit, zu testen, und es hat mir Spaß gemacht, auf dem Motorrad zu sitzen, aber es ist nicht mehr so einfach für mich, in der Startaufstellung zu stehen, mich mit den anderen Jungs zu messen und mit diesem „Druck“ bzw. der Mentalität fertig zu werden, die du bekommst, wenn du das Visier schließt und alles riskiert. Das habe ich in den letzten Rennen gespürt. Aber genau das muss man können, wenn man in der Startaufstellung stehen will. Früher fühlte es sich leicht an, dieses Niveau zu erreichen: Ich bin Risiken eingegangen, ohne darüber nachzudenken… Aber Schritt für Schritt erkennt man dann, dass man sich selbst zwingen muss, so zu sein. Ich habe nicht mehr die gleiche Motivation wie früher, Teil der Rennen zu sein. Ich weiß, wie schwierig es sein würde, mein früheres Niveau zu erreichen. Und ich will nicht ganz unten auf der [Ergebnis-]Liste stehen. Das wäre frustrierend! Aber das wäre der Fall, wenn ich für ein oder zwei Rennen zurückkehren würde. Was Dani dieses Jahr in Jerez gemacht hat, um seine Rundenzeiten an die unserer aktuellen Fahrer heranzubringen, war erstklassig. Wir wussten aber, dass er es schaffen würde, weil er die Motivation dazu hatte. Das ist nicht einfach, und dafür hat er meine volle Bewunderung.

 

Der Finne blickt auf seine Zukunft als Rider Coach. PC: Polarity Photo

Es ist schon verrückt zu sehen, wie sich das MotoGP-Projekt von KTM im Vergleich zu unseren Anfängen Ende 2016 verändert hat…

…aber auch die MotoGP hat sich in dieser Zeit mit all den Entwicklungen und Fahrstilen verändert. Es ist so viel Wissen im Spiel. Wir waren von Anfang an ein Factory Team, aber der Wissensstand, den wir in den ersten ein oder zwei Jahren hatten, war ganz anders als heute! Am Anfang der Geschichte konnten wir in ein paar Rennen noch ganz gut abschneiden, aber wenn man die Motorräder mit denen von unserem Debüt in Valencia vergleicht, ist das eine ganz andere Welt. Als Fahrer war es schon immer hart, an der Spitze zu stehen, egal in welcher Ära. Heute steckt aber so viel [in den Motorrädern] drin, dass man wirklich aufpassen muss. Von Jahr zu Jahr muss man das Bike besser verstehen und wissen, wie man die Reifen in einem guten Zustand hält. Jedes Jahr wachsen Verständnis und Erfahrung, wie man noch mehr Leistung und Potenzial aus den Reifen, dem Bike und der Aerodynamik herausholen kann. Das Team verbessert sein Wissen und gibt es an den Fahrer weiter, der es dann ebenfalls verbessern und verstehen muss. Inzwischen gibt es viel mehr zu beachten. Früher fühlte es sich mehr wie „reines“ Rennfahren an. Man hat einfach versucht, die Rundenzeit zu maximieren und immer am Limit zu fahren. Fahrer gegen Fahrer. Heute muss man sich um viele weitere Aspekte kümmern. An viele weitere Dinge denken. Die technische Seite hat mehr Einfluss auf das Ergebnis. Es ist natürlich ein ganz besonderes Gefühl, wenn KTM an der Spitze steht. Wir haben eine besondere Beziehung zueinander, schon seit den 2-Takt-Tagen. Für mich ist das Team schon lange wie eine Familie. Ich bin zwar nicht mehr auf dem Motorrad, aber es macht mir immer noch Spaß, dabei zu sein, vor allem, wenn ich die Jungs unterstützen und ihnen irgendwie helfen kann.