DER PERFEKTE FLOW: WIE KTM DIE AERODYNAMIK SEINER MOTOGP™ BIKES AUF DAS NÄCHSTE LEVEL HEBT

2023 wurde in der MotoGP bereits das nächste Kapitel in Sachen Aerodynamik von Motorrädern geöffnet – denn das Streben nach maximalem Abtrieb, Stabilität und Geschwindigkeit setzt sich rasant fort. Wie bleibt KTM dabei im Spiel? Wir haben Dan Marshall, den Leiter des Aerodynamik-Teams, in der Rennwerkstatt in Munderfing befragt.

Von Adam Wheeler

Brad Binder und Jack Miller von Red Bull KTM Factory Racing erreichen einen Meilenstein für KTM mit einem Doppelpodium beim Rennen in Jerez 2023 PC @PolarityPhoto

Aktuelle MotoGP-Motorräder unterscheiden sich auch äußerlich erheblich von ihren zehn Jahre älteren Vorgängern. Rennverkleidungen haben sich mittlerweile zu kunstvollen, sorgfältig strukturierten Skulpturen mit Kurven, Flügeln und Profilen entwickelt, die den Luftstrom bei 360 km/h um das Motorrad lenken. Grand-Prix-Motorräder der aktuellen Generation können als tiefliegende, Dragster-ähnliche und gleichzeitig futuristisch und auch ein wenig bedrohlich wirkende Bikes charakterisiert werden. Hauptursache für diese Entwicklung ist der sich intensivierende Kampf um aerodynamische Überlegenheit bei gleichzeitigem Zwang zur Einhaltung der Homologationsrichtlinien (weshalb das Bike einer bestimmten, schablonenartig vorgegebenen Form entsprechen muss). Forschungs- und Entwicklungsarbeit beschränkt sich natürlich nicht darauf, dass die Ergebnisse von 3D-Druckern in einen Windkanal geworfen und rein leistungsbezogen optimiert werden: Sieht man sich die Linien einer KTM 1290 SUPER DUKE RR oder – konkreter – die Aerodynamik der KTM RC 8C des Modelljahres 2023 an, so wird schnell deutlich, wie MotoGP-Denken in die Produktion eingeht und sich vergegenständlicht in den Händen der Kunden wiederfinden konnte.

Auf der Jagd nach dem richtigen Maß an Abtrieb mit dem Ziel, Bremsen und Lenken zu erleichtern und kostbare Zehntelsekunden zu gewinnen, hat KTM seine Bemühungen verstärkt und bedient sich nun auch des Know-hows von Red Bull Advanced Technologies. Schließlich konnte diese bedeutende Engineering-Schmiede dem Oracle Red Bull Racing Formel-1-Team in den letzten beiden Jahren zu zwei Titeln verhelfen. Diese Anstrengungen sind auch notwendig. Beim letzten Vorsaison-Test in Portimao waren im Ziel 18 Fahrer um lediglich eine Sekunde getrennt. Auf der gleichen Strecke konnte KTM dann in die Top-Sieben fahren, und eine Woche später gewann Brad Binder das zweite Sprintrennen in Argentinien.

Wenn die Jungs auf der letzten Rille fahren, ist eine glatte, optimierte Kantenführung der einzige Weg, und für die Homologation von Aeropaketen während der Rennsaison gibt es nur zwei Gelegenheiten.

DIE NEUE KTM RC 8C WURDE FÜR PURE PERFORMANCE OPTIMIERT, EINSCHLIESSLICH DER NEUEN AERODYNAMIC. PC: RUDI SCHEDL

 

Jack Miller, eine Einheit mit dem Motorrad, dragster-ähnlich durch die Abtriebskraft, die durch den Winglet an der hinteren Seite erzeugt wird. PC @PolarityPhoto

Wir wollten herausfinden, wie KTM mit Red Bull Advanced Technologies (RBAT) bei der Entwicklung des KTM RC16 MotoGP-Rennmotorrads zusammengearbeitet hat und warum die Zusammenarbeit eine sehr fruchtbare war. Und so konnten wir den leitenden Aerodynamiker Dan Marshall, der ein kleines Team in Munderfing leitet, dazu bewegen, uns einige Aspekte dieser geheimen, preisintensiven und oft unterschätzten Fachwelt näher zu erläutern.

Erste Frage, Dan: Wie kam es dazu, dass du in der KTM-Rennabteilung für die Aerodynamik verantwortlich bist?

Ich habe zehn Jahre lang in der Formel 1 und bei Force India in der Aerodynamik gearbeitet. Die Leidenschaft für Motorräder war bei mir immer schon da. Als sich dann die Gelegenheit bei KTM ergab, habe ich meine Karriere auf Zweiräder und Motorräder verlagert. Vor etwa fünf Jahren wurde klar, dass die Aerodynamik zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit immer wichtiger wird. Deshalb wollte KTM in diesem Bereich aktiver werden. Seitdem konnte ich ein kleines, effizientes Team aufbauen, das auf die unterschiedlichen Ressourcen von KTM, KTM Technologies, KISKA usw. zugreifen kann und auch von der jüngsten Partnerschaft mit RBAT profitiert.

Brad Binder und Jack Miller gehen an ihr Limit und erreichen mit dem neuen Aerodynamik-Paket das oberste Treppchen. PC @PolarityPhoto

Die Aerodynamik spielt für die Gesamtleistung eines Motorrads inzwischen eine viel größere Rolle, richtig?

Ja, dank unserer Erfahrungen aus den letzten fünf Jahren verstehen wir das Motorrad nun über die gesamte Runde besser und achten nicht mehr allein auf die Geschwindigkeit auf der Geraden, was früher der Schwerpunkt vieler Arbeiten zur Optimierung der Aerodynamik war. Aufgrund dieser Erkenntnisse aus der Abteilung Fahrzeugdynamik wissen wir, wo wir aerodynamische Kräfte an anderen Stellen nutzen können, um das Motorrad beim Bremsen, in Kurven oder beim Beschleunigen schneller zu machen. In der Entwicklungsarbeit kommt man immer an einen Punkt, an dem man in einem bestimmten Bereich das gesamte Optimierungspotenzial ausgeschöpft hat. Dann beginnt man, in anderen Bereichen nach Möglichkeiten zur Erhöhung der Geschwindigkeit zu suchen. Wenn man nur den Luftwiderstand eines Motorrads betrachtet, gibt es eine Menge Dinge, die wir gerne tun würden. Doch deren Ergebnis würde dann irgendwie an die 1950er Jahre erinnern. Also mussten wir immer auch an das große Ganze denken.

KTMs Aerodynamik – entwickelt, getestet und bewährt durch niemand geringeren als den eigenen Red Bull KTM Factory Racing Werksfahrern. PC @KISKA

Für manche mag es schwer zu akzeptieren sein, dass das entscheidende Leistungskriterium die Form der MotoGP-Verkleidung ist – besonders, wenn man die technische Komplexität im Inneren eines Motorrads bedenkt…

Ja, bis in die letzten Jahre galt das sicherlich. Ich habe mich einmal näher mit dieser Thematik beschäftigt: Betrachtet man die aerodynamische Entwicklung eines Rennmotorrads, dann ist von den 1960er Jahren bis zur Jahrtausendwende nichts Wesentliches passiert. Selbst als andere Marken damit begannen, Finnen an den Motorrädern anzubringen, haben sie diese einfach an eine bestehende Verkleidung geschraubt. Inzwischen wissen wir viel mehr darüber, wie die Kotflügel und die Verkleidung zusammenwirken. Wir betrachten die Komponenten nicht mehr unabhängig voneinander, sondern stärker als die Gesamtheit eines aerodynamisch funktionierenden Körpers. Wir versuchen jetzt, die traditionelle Vorstellung vom idealen Aussehen eines Motorrads über Bord zu werfen und zu überlegen, was besser für die Leistung ist. Der andere Aspekt ist, dass viele Menschen ein sehr emotionales Verhältnis zu einem Motorrad und seinem Aussehen haben. Wenn man nun damit beginnt, alle diese mehr oder weniger nützlichen Kleinigkeiten anzubringen, zerstört man diese traditionellen Vorstellungen in einem gewissen Maße! Ich denke, wir bei KTM geben uns im Vergleich zu anderen Wettbewerbern etwas mehr Mühe. Wir arbeiten intensiv mit KISKA zusammen, und unsere Chefs wollen natürlich auch ein attraktives Motorrad sehen. So fließen in das Design und die Grafik eines Motorrads auch solche Aspekte wie emotionale Bindung und persönliche Meinungen ein.

Kannst du bei der aerodynamischen Gestaltung von Teilen und beim 3D-Druck auch tatsächlich selbst Hand anlegen? Oder wird der Großteil der Arbeit über CAD-Anwendungen erledigt?

Man muss sogar selbst Hand anlegen. Letztlich geht es auch um Informationsvermittlung. Man muss Menschen, die viel Wissen, aber möglicherweise nicht so viel Rennerfahrung haben, die Entwicklungen und entsprechende Simulationen aufzeigen. Und es geht darum, den Mechanikern und dann den Konstruktionsspezialisten zu zeigen, was wir von ihnen brauchen. Zu allen diesen Gruppen haben wir eine gute Arbeitsbeziehung, doch bei der Form eines Motorrads geht es um weit mehr als nur um das Styling.

Unterschiedliche Fahrer haben unterschiedliche Vorlieben – MotoGP-Legende und Tesfahrer von Red Bull KTM Factory Racing, Dani Pedrosa testet ein leicht aktualisiertes Aerodynamikpaket. PC @PolarityPhoto

Wie funktioniert nach deiner Einschätzung die Zusammenarbeit mit Red Bull Advanced Technologies? Wie schätzt du diese Zusammenarbeit ein, und was konnte dabei schon erreicht werden?

Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir erkannt haben, wie wichtig die Aerodynamik in der MotoGP inzwischen ist. An diesen hohen Stellenwert habe ich immer geglaubt. Es ist gut, dass wir auf die Entwicklungen reagiert und uns gefragt haben: „Wie können wir Weltmeister werden?“ Ein Teil der Antwort auf diese Frage bestand darin, die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit RBAT zu nutzen. Anfänglich wussten wir natürlich nicht, wie es funktionieren würde. Doch ich habe mit voller Kraft dazu beitragen wollen, das Rennmotorrad noch etwas schneller zu machen. Noch immer leiten wir das Projekt und definieren die Ziele. Doch auch für sie war es eine Lernerfahrung. Unsere Partnerschaft ist eine wechselseitige. Natürlich möchten wir möglichst viel von ihnen lernen. Aber auch sie profitieren, denn wir können das Verhalten eines Motorrads besser einschätzen. Wie detailliert und kompliziert dieser Aspekt sein kann, haben sie möglicherweise sogar ein wenig unterschätzt. Sie haben das Niveau, auf dem wir arbeiten, nicht erkannt.

Wie sieht es in logistischer Hinsicht aus?

Recht gut, wenn man bedenkt, dass wir 1000 km voneinander entfernt sind. Seit der Pandemie hat der Anteil von Online-Meetings stark zugenommen. Und wir haben viel für eine Optimierung der Datenübertragung getan. Sie besuchen uns regelmäßig, und das ist dann immer auch eine große Hilfe.

Du erwähntest eine gewisse „Unterschätzung“. Betraf das nur die Motorraddynamik?

Ja, und genau das ist einer der coolen Aspekte der Arbeit bei KTM. Die meisten Leute hier scheinen Motorradfreaks zu sein, und das gibt ihnen das gewisse Mehr an Verständnis, das bei der Arbeit helfen kann. Natürlich arbeiten hier nicht nur Freaks, und das ist auch gar nicht notwendig, aber auf einer grundlegenden Ebene hilft es doch. Die RBAT-Ingenieure sind wirklich kluge Jungs. Ihr wichtigster Vorteil ist, dass sie über alternative Wege zu Leistungsverbesserung nachdenken können. Sie sind einerseits klug und andererseits erfahren. Das ist sehr positiv, denn sie hören uns zu und probieren Dinge aus. Es ist ja nicht so, dass sie hereingestürmt kamen und sagten: „Das ist für euch das beste Paket. Und nun geht an die Arbeit und setzt es um.“ Stattdessen war es ein großes Geben und Nehmen.

KTM verlässt sich nicht nur auf Datenanalyse, sondern holt auch Feedback von Experten und Fahrern ein, um das bestmögliche Paket zu entwickeln und die Fahrer auf die obersten Stufen des Podiums zu bringen. PC @PolartiyPhoto

Mit welchem Ergebnis?

Sie verfügen über viele Ressourcen, so dass sie deutlich schneller entwerfen und simulieren können. Sie hatten unser Basispaket von 2022, gingen an die Arbeit, und nutzten dann auch unser intern entwickeltes Paket für 2023. Sie sahen, was wir taten, griffen unser Leistungspaket auf und machten es schneller, um eine Form der nächsten Generation zu entwickeln. Diese haben wir dann in Sepang getestet. Es freut mich, zu sehen, dass ihr Team nahtlos an unsere Arbeit angeknüpft hat, denn es bestärkt uns in unserem Handeln und in der Überzeugung, dass unsere Methoden und Ansätze richtig sind.

Brad Binder nutzt am Circuito de Jerez die aerodynamischen Vorteile des 2023-Modells, das unter Verwendung von Ressourcen aus verschiedenen Abteilungen von KTM entwickelt wurde. PC @PolarityPhoto

Wie siehst du die Zukunft der Aerodynamik in der MotoGP?

Ich denke, die Entwicklung könnte in mehrere Richtungen gehen. Bei den Rennen haben wir einen Trend zu weniger Überholmanövern gesehen. Ich glaube, das liegt teilweise an der vervollkommneten Aerodynamik des Motorrads sowie daran, dass es schwieriger geworden ist, aus dem Windschatten des Vordermannes zu fahren und zu überholen. Klar, aerodynamische Weiterentwicklungen könnten verboten werden. Ich hoffe das natürlich nicht, denn ein sich durch die Luft bewegendes Rennmotorrad ist natürlich Aerodynamik pur – und wie sollte man deren Optimierung verbieten? Man könnte dem Weg der Formel 1 folgen und aktive Aerodynamik wie ein DRS-System in einem gewissen Maße zulassen. Ich bin allerdings kein großer Fan von DRS oder KERS, denn letztlich handelt es sich dabei um Manipulation des Rennsports. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, einen gewissen Raum für aerodynamische Kreativität und Freiheit zu lassen, freilich ohne die Masse an Wirbelströmungen und Turbulenzen, die vor einigen Jahren bei den ursprünglichen Flügeln das Problem waren. Die Fahrer haben sich damals heftig über die Wirbel und Luftturbulenzen beschwert. Die haben wir noch immer, und wenn es in dieser Hinsicht überhaupt eine Entwicklung gab, dann in den letzten fünf bis sieben Jahren wahrscheinlich eine Verschlechterung, weil die Anzahl aerodynamischer Teile am Motorrad so stark zugenommen hat. Der Stellenwert der Aerodynamik wird immer größer. Wir müssen uns irgendwie auf einen vernünftigen Weg einigen, um diese Entwicklung unter Kontrolle zu halten.